In seinem ersten Jahr als professioneller Offensive Line Coach bei den Munich Ravens musste Joe Thomas nicht nur eine neue Rolle übernehmen, sondern auch schnell eine enge Bindung zu seinem Team aufbauen. Im zweiten Teil unserer Interview-Serie mit dem NFL-Hall-of-Famer sprechen wir über die Höhen und Tiefen seiner ersten Saison, die Bedeutung von Vertrauen im Team und wie Rückschläge zur Chance wurden, gemeinsam zu wachsen.
Dies war dein erster Job als Profi-Coach. Was hattest du für Erwartungen, als du angefangen hast?
Joe Thomas: Am Anfang war ich sehr nervös. Obwohl ich das Spiel gespielt und als Spieler auch schon meine Teamkollegen gecoacht hatte, war es das erste Mal, dass ich für eine Gruppe von elf Spielern verantwortlich war. Ursprünglich sollte ein NFL-Coach, mit dem ich zusammengearbeitet hatte, mir dabei helfen, aber aus gesundheitlichen Gründen konnte er nicht kommen.
Also lag die ganze Verantwortung auf mir, was schon einschüchternd war. Die Rolle des O-Line-Coaches bringt viel Verantwortung mit sich – du betreust fünf Spieler, die bei jedem Snap auf dem Feld stehen, und dabei kommt es auf jedes Detail an. Nach unserem ersten Spiel gegen Stuttgart, das wir deutlich verloren, fühlte ich aber plötzlich eine unerwartete Zuversicht. Trotz des Ergebnisses glaubte ich an den Plan, den Kyle Callahan und ich entwickelt hatten, und wusste, dass das Team einfach Zeit brauchte, um sich zu finden. Dieses Vertrauen hat mich durch die Saison getragen.
Seltsamerweise fühlte ich nach dem Stuttgart-Spiel eine Erleichterung. Der Spielplan war nicht erfolgreich, aber ich erkannte, dass der Prozess, ihn zu erstellen, die Zusammenarbeit mit Kyle und die entwickelten Strategien gut waren. Es lag nicht am fehlenden Talent oder an der Vorbereitung, sondern daran, dass wir mehr Zeit brauchten, um sie umzusetzen. Diese Erkenntnis gab mir das Vertrauen, dass ich auf diesem Niveau bestehen kann und nicht überfordert war.
Bist du zufrieden mit deiner Rolle als Coach?
Joe Thomas: Als O-Line-Coach ist man nie ganz zufrieden. Es gibt immer Dinge, die besser sein könnten – sowohl bei den Spielern als auch bei mir als Coach. Aber ich habe das Gefühl, dass ich jede Woche dazugelernt habe und das Team besser auf das nächste Spiel vorbereite. Das hat mich angetrieben – immer besser zu werden. Es gibt keine Perfektion in diesem Job. Selbst nach einem guten Spiel fand ich beim Filmstudium immer noch Fehler, sowohl bei den Spielern als auch bei mir. Es war dieser ständige Drang nach Verbesserung, der mich motivierte.
Würdest du etwas an deinem Coaching-Ansatz ändern, wenn du nochmal von vorne anfangen könntest?
Joe Thomas: Ich denke, ich würde nichts Grundlegendes ändern, basierend auf dem Wissen, das ich damals hatte. Natürlich gibt es im Nachhinein immer Dinge, die man anders machen könnte, aber das lernt man erst, wenn man die Spiele spielt und sieht, wie das Team performt. Ohne Vorbereitungsspiele war es schwer, unsere Stärken und Schwächen vorab einzuschätzen. Erst auf dem Feld konnten wir die nötigen Anpassungen vornehmen.
Im Rückblick hätte ich vielleicht einige Dinge früher in den Fokus rücken oder den Schwerpunkt leicht verschieben können, basierend auf dem, was wir im Laufe der Saison gelernt haben. Zum Beispiel hätten wir bestimmte Spielzüge oder Strategien, in denen unsere Jungs besonders gut waren, von Anfang an stärker betonen können. Aber insgesamt würde ich meinen ursprünglichen Ansatz nicht ändern, weil er auf den besten Informationen basierte, die wir zu der Zeit hatten.
Man sieht, dass du eine enge Beziehung zu den Jungs in der Offensive Line aufgebaut hast. Wie ist diese Bindung entstanden?
Joe Thomas: Ich bin mit vier Kindern nach Deutschland gekommen und gehe jetzt mit fünfzehn. Elf Offensive Linemen habe ich zu meiner Familie hinzugefügt. Ich weiß nicht, ob sie mich als Bruder, Coach oder Vater sehen, aber ich sehe sie als meine Jungs. Wir haben eine enge Bindung aufgebaut, die auf Vertrauen und offener Kommunikation basiert. Von Anfang an habe ich ihnen gesagt, dass ich immer ehrlich zu ihnen sein werde, und ich glaube, das haben sie geschätzt.
Ein Schlüsselmoment war während des Trainingslagers, als einer unserer Spieler sich den Daumen verletzt hat. Er wollte nicht trainieren, aber ich konnte ihn überzeugen, mir zu vertrauen. Ich habe seinen Daumen so getapt, wie ich es früher bei mir selbst gemacht habe, Mit einem improvisierten Verband, den ich aus einer zerdrückten Pflasterbox und Tape gemacht habe, konnte er dann spielen. Dieser Moment hat ein Vertrauen aufgebaut, das uns die ganze Saison begleitet hat.
Und es schadet natürlich nicht, dass ich die Jungs oft zu mir nach Hause eingeladen habe, um amerikanisches BBQ zu genießen. Das hat nicht nur den Magen, sondern auch unsere Bindung gestärkt. Ich habe 17 BBQ-Restaurants zu Hause, also habe ich einiges an Erfahrung, und die Jungs lieben BBQ. Diese Treffen waren mehr als nur Mahlzeiten – sie haben uns als Einheit enger zusammengeschweißt.
Über Joe Thomas
Joe Thomas ist ein ehemaliger Erstrunden-Draft-Pick der Cleveland Browns. Er spielte elf Jahre für die NFL-Franchise und wurde in dieser Zeit zehn Mal für den Pro Bowl, das All-Star-Game der NFL, nominiert. Thomas war sechs Mal im NFL First Team All-Pro und zwei Mal im NFL Second Team All-Pro. Er wurde ins Team der 2010er Dekade gewählt und wurde 2023 in die NFL Hall of Fame aufgenommen. Als bisher einziger Spieler in der Geschichte der NFL spielte Thomas in über 10.000 aufeinanderfolgenden Spielzügen – ohne Pause oder Verletzung. Sein Rekord liegt bei 10.363 Snaps.
Foto: Roland Johannes